Interview mit Max Becher
/ Welt am Sonntag

Ihre Eltern machten Fotografie zu Kunst, indem sie einzelne Industriebauten in Szene setzten. Sie waren von klein auf mit dabei. Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre Eltern etwas anderes machen als die Eltern anderer Kinder?

 

Anfangs hatte ich das Gefühl, dass meine Eltern normal sind die anderen nicht. Wir hatten früher in einer Art Kommune gewohnt, umgeben von Kreativen und Künstlern, also waren meine Eltern nichts Besonderes. Als ich aber in die Schule kam, fiel mir der Unterschied auf. Meine Eltern haben fast nie Möbel gekauft, Tische und Stühle kamen von der Straße. Sie hatten kein Geld, und in unserer Straße gab es wohlhabende Leute, die alle paar Jahre die Möbel wechselten. Wir lebten auf dem Land in einem kleinen Ort zwischen Kaiserswerth und Wittlaer nördlich von Düsseldorf in einer alten Mühle. Weil meine Eltern sie schrittweise renovierten, zahlten sie kaum Miete. Und sie arbeiteten nur, wenn sie Geld brauchten. Anfangs waren beide für eine Düsseldorfer Werbeagentur tätig, wo ihre Wege sich kreuzten – meine Mutter mit der Kamera und mein Vater als Grafiker. Sie entschieden sich, aufzuhören, weil sie fanden, dass ihre Kreativität dort ausgesogen würde. So begannen sie erst in den späten 50er-Jahren, als sie schon um die 30 waren, als Künstler zu arbeiten. Ich wurde 1964 geboren, am Anfang ihrer Laufbahn.

 

Was war die Initialzündung für die Bildsprache Ihrer Eltern? Es gab ja schon früh eine Klarheit in der Komposition, die immergleiche Perspektive und der Fokus auf Schwarzweiß.

 

Ich glaube nicht, dass das plötzlich kam. Beide haben viel ausprobiert, bevor sie zusammenkamen. Hilla hatte in Potsdam traditionell Fotografie gelernt und konnte mit der Plattenkamera umgehen, sie interessierte sich für die Technologie. Bernd waren seine Erlebnisse in der Industrieregion in Siegen wichtiger, wo er aufgewachsen war. Seine Familie bestand aus Bergarbeitern und Handwerkern. Für ihn war die Industriearchitektur eher persönlich, für meine Mutter mehr fantastisch, wie Science-Fiction. Sie hatte ja einen bürgerlich-konservativen Hintergrund.

 

Ihr Vater kam aus dem Arbeiter- und Handwerksmilieu.

 

Sein Vater war Malermeister und Dekorationsmaler, der unter anderem Innenräume von Kirchen mitgestaltete. Damals konnten die Leute ja alles: Bergleute waren gleichzeitig Ziegenbauern und konnten mit Holz arbeiten. Bernd konnte das auch, wusste aber, dass er ein richtiger Künstler war. Inzwischen sehe ich, wie nostalgisch er hinsichtlich seiner Kindheit in Siegen und Umgebung war, er liebte die Fachwerkarchitektur dort und zeichnete sie oft. Die Stadt war im Krieg abgebrannt – was er liebte, war zerstört, das war sein Trauma. Zugleich ist Siegen aber auch eine Industriestadt mit Stahlwerken, die ebenfalls zerstört wurden: Nicht durch den Krieg, sondern weil die Werke größeren weichen mussten. Das Trauma wiederholte sich also. Um seine Heimat zu wahren, wollte mein Vater also nicht nur hübsche Fachwerkhäuser zeigen, sondern auch die Industrie – der Förderturm war ja für einen Ort genauso wichtig wie die Kirche, hatte auch etwas Sakrales. Man sieht den Zusammenhang zwischen den architektonischen Kreuzverbindungen, die es bei der Kirche wie beim Fachwerk und in der Industrie gibt. Das ist einerseits funktional aber sieht auch toll aus. Es zeigt die Funktion nach außen.

 

Es scheint, als war Ihr Vater ein emotionalerer Mensch als ihre Mutter.

 

Ja, er war sehr leidenschaftlich, hat alles sehr gefühlt. Er war extrem sensibel für Farbe, sammelte Farbtabellen. Bestimmte Farben mochte er nicht, ein grelles Farbfoto war für ihn riskant, bei Schwarzweiß hatte man Ruhe. Als meine Eltern in Amerika waren, gab es im Winter ein sehr grelles Licht, was für viele Objekte nicht funktioniert. Im Sommer war es besser, da es feucht war und eine Art Nebel entstand. Am besten war das stark bewölkte Licht. Vier Tage Sonne hintereinander? Da wird man verrückt, das mochte mein Vater nicht.

 

Wie würden Sie Ihre Mutter beschreiben?

 

Sie war eher ausgeglichen und cool. Leidenschaftlich, aber nicht so launisch. Sehr konzeptuell, sie hat alles aus der Distanz heraus verstanden. Sie wusste, dass die Arbeit meiner Eltern in die Zeit und in den damaligen Kunstdiskurs passte, interessierte sich auch für Konzeptkunst. Sie war intellektueller und logischer als mein Vater, hat auch oft die Buchhaltung und Korrespondenz gemacht. Und ich glaube, sie war für die Typologie der Arbeiten meiner Eltern verantwortlich – die Objekte zusammenzustellen und zu vergleichen.

 

Sie ist in Potsdam aufgewachsen und musste im Krieg vor den Russen fliehen…

 

Ja, die Flucht war ihr Trauma. Aber sie war jung genug, um flexibel zu sein und akzeptierte den Krieg als Realität. Sie hat furchtbare Dinge gesehen, aber es gab auch viel Freiheit und das Gefühl, dass die Erwachsenen das Chaos nicht beherrschten. Als Kind fühlte sie sich so freier, aber vertraute auch niemandem. In den Industrieanlagen fand sie das Kriegserlebnis wieder, das Wahre, Ehrliche. Sie hatte Respekt vor Ingenieurswesen und Wissenschaften, da ihre Vorfahren in diesem Bereich gearbeitet hatten. Der Kontrast aus ihrer bürgerlichen Heimat Potsdam und der Industrielandschaft im Rheinland faszinierte sie – das Bourgeoise nahm sie nie richtig ernst, was sie mit meinem Vater verband. Beide wollten zeigen, was wirklich da ist. Unser Wohlstand ist abhängig von dieser rohen Welt.

 

Wie sah als Kind Ihr Alltag aus mit diesen Eltern?

 

Es gab keine Struktur im Tag. Ich konnte machen was ich wollte, spielte oft bis elf Uhr nachts. Hilla war bis drei Uhr morgens in der Dunkelkammer und schlief dann lange. Bernd war um fünf wach, machte Tee und fuhr ins Ruhrgebiet, entdeckte etwas oder hatte eine Idee, mit der er zurückkam. Wir alle bastelten ständig: Spielen und Kunst machen war für mich eins, ich habe dauernd gezeichnet, auch auf den Abzügen. Es war eine einzige Künstlerfabrik! Alles hat sich vermischt, man arbeitete im Esszimmer und aß im Studio. Die einzige Disziplin war das Endresultat. Es gab keine Ferien und kein Wochenende, und auf die Reisen meiner Eltern kam ich oft mit. Dann mussten wir früh aufstehen, denn es ging immer ums Licht. Manchmal hatten wir ein bestimmtes Ziel, etwa ein Bergwerk, und auf dem Weg gab es all diese Wassertürme, das war wie Pilzesammeln. Als Kind konnte es aber auch sehr langweilig sein, drei Tage an einer Stelle zu stehen, während meine Eltern fotografierten, um die perfekte Aufnahme zu machen.

 

Wie war das Prozedere des Fotografierens?

 

Es gab alles doppelt. Zwei Stative, zwei Kameras, zwei Objektive. Und wenn es nur ein Wasserturm war – die sind relativ einfach, vor allem, wenn sie alleine stehen: Man sucht sich den Winkel und die richtige Stelle aus und das Foto sitzt relativ schnell. Da habe ich oft mitgemacht, das Stativ war schwer aber für mich zu schaffen. Die Kamera durfte ich erst später tragen. Wir bauten alles auf, in der Hoffnung, dass das Licht noch oder wieder gut war – manchmal mussten wir alles stehenlassen und warten. Dann überlegte man, ob sich das lohnt oder man erstmal woanders hinsollte.

 

Im Rheinland und im Ruhrgebiet gibt es bis heute sehr viel dieser Industriearchitektur, die Ihre Eltern fotografiert haben. Wie war das in den USA: Wussten sie, wo sie suchen mussten?

 

Ja, man musste nach Pennsylvania, Ohio, Alabama und weiter südlich, die ganze Apalachia entlang. Insgesamt war es in den USA wilder. In Deutschland fühlte man sich sicher. Man konnte irgendwo den Bus abstellen und übernachten. Das ging in Amerika nicht, man wurde oft von der Polizei gewarnt. Die Industriegegend ist riesig, es gibt viel Kriminalität. Die Industrie hat Angst vor Spionage und Umweltaktivisten. Touristen sind nicht normal, man ist sofort verdächtig. Meine Eltern waren immer sehr auf der Hut. Es war gut, dass Bernd immer einen Blaumann trug und Hilla elegant gekleidet war. Beide waren charmant, sie haben die Situation immer entschärft. Es half, dass ich dabei war.

 

Ihre Eltern hatten eine Art Urvertrauen, da sie Sie nicht nur überall mit hinnahmen, sondern in New York in einer Wohnung in Soho ließen. Da waren Sie zwölf, und Ihre Eltern gingen zurück nach Deutschland.

 

Ja, ich wohnte ab zwölf alleine in New York. Meine Eltern kamen wenn möglich einmal im Jahr, ein paar Mal kamen auch Studenten, darunter Thomas Struth und Janice Guy, um dort zu arbeiten und ein bisschen auf mich aufzupassen. Ich hatte ein paar Telefonnummern, die ich hätte anrufen können. Aber die Schule ging ja bis drei, ich war also lange beschäftigt, und spätestens um sieben war ich zu Hause. Die Aufsichtspflicht wurde nicht kontrolliert. Ob meine Eltern Angst um mich hatten? Das kann ich nicht beurteilen. Aber ich war verantwortungsbewusst. Vielleicht lag es daran, dass meine Eltern als Kinder früher reif und auf sich gestellt waren. Einmal boten sie mir ganz sanft an, nach Deutschland zurück zu kommen. Ich versuchte es, aber vermisste meine Freunde. Daher bat ich meine Eltern: Wenn es geht, möchte ich gerne wieder zurück. Das hatte Vorteile – sie mussten sich nicht um einen Teenager kümmern, und ich hatte Freiheit.

 

Ihre Eltern waren in der Düsseldorfer Kunstszene gut vernetzt, Ihr Vater lehrte an der Akademie…

 

Ja, aber es war kein großes Netz. Es gab nur sehr wenige Leute, die deren Kunst wirklich ernst nahmen. Meine Eltern waren mit Uecker, Richter und Polke befreundet, Beuys kannten sie gut, aber der war nicht ihre Welt. Die Hilla hätte lieber in einer Großstadt gelebt. Deshalb war es ihr auch wichtig, dass ich in New York bleibe, da hatte sie immer einen Grund zu kommen und wäre am liebsten geblieben – aber der Bernd nicht.

 

Weil er sich dort nicht zu Hause fühlte?

 

Ja, und man baut dort mehr provisorisch. In Amerika ziehen die Menschen häufig um und wechseln den Job, weswegen viele Architekturen so plastikartig wirken. Im Siegerland arbeiten die Leute schon seit 3000 Jahren im Handwerk, die sind total verwurzelt. Die amerikanischen Wurzeln verzweigen sich in alle Richtungen und gehen kaum in den Boden hinein. Der Bernd hat das ganz stark gespürt: Das ist spannend, aber man kann hier nicht zu Hause sein. Zumindest nicht auf dem Land. Es gibt dort keinen wirklichen Ort, keine Stelle.

 

Ihre Eltern haben nie außerhalb von Westeuropa und den USA fotografiert. Warum?

 

Sie wussten, dass sie sich begrenzen mussten. Europa war zwar der Anfang der Industrialisierung, und Amerika musste man mitnehmen. Sie hätten auch Südafrika, Peru und Mexiko abdecken können, wo es seit Jahrtausenden Minen gibt. Aber die Urformen der modernen Industriearchitektur sind in Europa und den USA vorhanden. Meine Mutter ist einmal nach China gereist, dort wurden deutsche Hochöfen, die man hier demontiert hat, wieder aufgebaut. Aber es ging nicht darum, alles zu zeigen – sondern die Essenz.

 

 

Bernd und Hilla Becher, Sprüth Magers Berlin, bis 7. November