Rollenbilder
/ Weltkunst

Wie ein Geist sitzt sie da und schaut ins Leere. Die blonden kurzen Haare zerzaust, der Wollgürtel des grauen Strickkleides wie ein Strang um den Hals gelegt. Auf einer Gesichtshälfte erheben sich wulstige Narben, die auch das Makeup nicht wegbekommt. Alles hier ist düster, krank, kaputt. Der schöne Schein der Modewelt, die Noblesse der High Fashion – radikal ins Gegenteil verkehrt. Statt auf ein makelloses Model blicken wir auf eine Frau, die weder süß noch sexy ist, sondern wie ein Zombie puppenhaft leer wirkt, mit einer suizidalen Aura, die von Gewalt und Grausamkeit erzählt.

 

Es ist das Jahr 1984, als die französische Vogue die Künstlerin Cindy Sherman um eine Art Anti-Fotostrecke bittet, in der sie die Entwürfe von Dorothée Bis, Comme des Garçons, Issey Miyake und anderen berühmten Designern in Szene setzen soll – und zwar auf diese irritierende Weise, mit der Sherman ein paar Jahre zuvor zu den wichtigsten Künstlerinnen ihrer Generation avanciert ist. Ihre merkwürdig überzeichneten Selbstporträts, für die sie sich bis zur Unkenntlichkeit kostümiert und schminkt, zeigen Frauen in typischen Rollen, die ihnen die Gesellschaft und die Medien zuordnen. Im Jahr zuvor hat sie eine Modestrecke für das Magazin Interview fotografiert, die das Gegenteil einer traditionellen Werbekampagne war: Als Model präsentierte sie sich zerzaust, verschmiert und mit alberner Mimik, um den eigentlichen Zweck solcher Bilder unterwandern. Ein smarter Gag für ein Hochglanzmagazin, der in der Branche für Furore sorgte. Was Sherman nun aber für Vogue abliefert, ist der Chefredaktion zu viel. Die Bilder von geschlagenen, in sich zusammengesunkenen Frauen mit Narben und Augenringen sind zu verstörend, als dass Vogue sie ihren Lesern zumuten will. Dabei geht es der Künstlerin genau darum. „Es stößt mich ab, wie Menschen sich zurechtmachen, um hübsch auszusehen“, wird sie später erklären. „Die andere Seite fasziniert mich viel mehr. Ich wollte mich über Mode lustig machen.“

 

Die Staatsgalerie Stuttgart widmet diesem Aspekt in Shermans Werk nun eine ganze Ausstellung. Und tatsächlich wird erst in der Rückschau klar, wie wichtig diese Modestrecken für Shermans Arbeit sind. Die Künstlerin beginnt genau hier, ihre Bilder ins Groteske, Abstoßende und Horrorartige zu wenden und eine morbide Atmosphäre zu verbreiten, die seitdem in ihrer Kunst ständig spürbar ist. Zwar haben Shermans Bilder von Beginn an einen dunklen Touch. Doch bis dahin inszeniert sich vor allem in verführerischen oder verängstigten Posen: klischeehafte Charaktere, wie man sie aus Hollywood-Filmen, von Fotos und aus Magazinen kennt und deren Rollenbilder Sherman durch eben diese Darstellungen entlarvt. Fotografie ist ihr Mittel zum Zweck, um eine Gesellschaft des schönen Scheins zu dekonstruieren, in der weibliche Stereotype von den Medien immer weiter festgeschrieben werden. Doch wie kommt sie überhaupt dazu? Wer ist diese Frau, die bis heute weltweit zu den einflussreichsten Künstlerinnen zählt – die stets im Mittelpunkt ihres Werkes steht und doch völlig dahinter verschwindet?

 

Cindy Sherman wird 1954 in New Jersey geboren und wächst in Long Island auf, unweit von Manhattan. Ihre Generation ist die erste, in der der Fernseher zur Familie zählt, mit Vorabendserien, TV-Shows und Hollywoodfilmen. Sherman liebt es, sich zu verkleiden, als alte Frau oder als Monster, was sie lustiger findet, als wie eine Barbie auszusehen. 1972 beginnt sie, in Buffalo, westlich von New York, Malerei zu studieren. Doch schnell greift sie zur Kamera – und obwohl sie sich mit der Technik nicht auskennt, fängt sie an, zu experimentieren. Es ist die Zeit, in der Amerika eine regelrechte Flut innovativer Künstler und vor allem Künstlerinnen hervorbringt. Pop Art, Minimal Art, Konzeptkunst und Land Art haben den traditionellen Kunstbegriff völlig auf den Kopf gestellt. Den eigenen Körper einzusetzen und Performances zu machen, für deren Dokumentation und Inszenierung Film und Fotografie eine zentrale Rolle spielen, wird wichtig, um Geschlecht und Gesellschaft zu analysieren. Künstler wie Bruce Nauman, Vito Acconci und Lynda Benglis ebneten den Weg für ein bildnerisches Vokabular, was völlig anders war als alles, was man bisher mit Kunst assoziiert hatte. Plötzlich stand der Körper im Mittelpunkt, passend zu der Veränderung des Frauenbildes in der Gesellschaft.

 

Doch wo starre Kleidung, toupierte Frisuren und dickes Makeup zunehmend von der Straße verschwinden, bleibt Sherman davon fasziniert. Sie verkleidet sich als schwangere Frau, als Fernsehkomikerin oder als Sekretärin und geht so unter die Leute – bis sie beginnt, sich in solchen Aufmachungen selbst zu fotografieren. Als erstes entsteht 1975 eine 23teilige Porträtserie, in der sie sich, damals noch Studentin, vom bebrillten Mädchen in einen Vamp verwandelt. Ein Schlüsselmoment, wie sie sagt: „Es dämmerte mir, dass ich auf etwas gestoßen war.“ Sie trägt die Idee weiter, in fünf Aufnahmen ihres karikaturesk verzogenen Gesichts, was wirkt wie Casting-Fotos, auf denen Schauspieler ihr Können zeigen. Die Bildserien werden zum Grundstein dessen, was Shermans Arbeit bis heute auszeichnet: Die Selbstinszenierung von ins Extrem getriebenen Figuren, die als Stellvertreter kultureller Klischees und Ideologien fungieren.

 

Dass das durchaus Unterhaltungswert hat, ist Teil von Shermans Spiel. „In der Kunsthochschule stieß es mich zunehmend ab, dass Kunst etwas Religiöses oder Heiliges war“, wird sie später dazu sagen. „Ich wollte etwas machen, das die Leute begreifen können, ohne vorher ein Buch darüber zu lesen. Jeder soll damit etwas anfangen können, auch wenn er es nicht ganz versteht. Deshalb wollte ich etwas aus der Kultur imitieren und mich gleichzeitig darüber lustig machen.“ Es ist diese Haltung, die sich durch ihr Werk ziehen wird wie Fönfrisuren durchs Fernsehen: Statt an verkopfter Kunsttheorie orientiert sich Sherman an Popkultur, Film, TV und Zeitschriften.

 

1977, mit 23 Jahren, zieht sie nach New York – und verändert mit ihren Untitled Film Stills auf einen Schlag die Kunstgeschichte. Die Stills sind kleinformatige Schwarzweiß-Fotografien, die wirken wie am Filmset entstanden. Sie zeigen Frauen in klassischen weiblichen Rollen, inspiriert von Spielfilmen der 1950er- und 60er-Jahre à la Hitchcock und Antonioni, jedoch ohne konkrete Verweise. Es sind Bilder und Typen, wie wir sie dank Hollywood alle in den Köpfen haben, sei es Sexbombe, Hausfrau oder Vamp. Auf jedem Bild hat Sherman sich selbst akribisch in Szene gesetzt und blickt, wie es sich beim Film gehört, niemals direkt in die Kamera – allein diese Nähe zur Performance macht klar, dass sie keine bloße Fotografin ist. Der Kritiker Craig Owens schrieb 1980: „Shermans Frauen sind keine Frauen, sondern Bilder von Frauen – Modelle, die die Weiblichkeit spiegeln, die von den Medien auf sie projiziert wird, um zur Nachahmung und Identifikation anzuregen.“ Die Stills zählen zweifellos zu den wichtigsten Werken der Kunst des 20. Jahrhunderts, die unermüdlich von Kunsthistorikern, Kritikern und Kuratoren zitiert und analysiert werden. Sie legen den Grundstein für eine Karriere, in der Sherman ihr Publikum auf nonchalante Weise immer wieder aufs Neue überrumpelt. Und sie sind ein Schlüsselwerk einer bilderüberfluteten Epoche, in denen Künstler wie Richard Prince, Laurie Simmons und Barbara Kruger anfangen, mit vorgefundenen Aufnahmen aus Kino, Fernsehen und Werbung zu arbeiten und die zentralen Gedanken dessen formulieren, was als „Postmoderne“ in die Kunstgeschichte eingehen wird: Die Hinterfragung des originalen Kunstwerks und des Künstlergenies durch die Verwendung von Bildern aus den Massenmedien. Für die Künstler der sogenannten „Pictures Generation“ wird das Medium Fotografie, das Klischees hervorbringt und sie zugleich zu unterwandern vermag, zum zentralen Handwerk, um die neue, kameraverliebte Welt ins Visier zu nehmen. Wenn man bedenkt, wie sehr Kameras heute unser Leben im Griff haben, wird klar, wie weit diese Künstler ihrer Zeit voraus waren – allen voran Cindy Sherman.

 

Ihre Strategie und ihren Starruhm treibt sie 1981 weiter voran, mit einer sattfarbigen Bildserie im Posterformat. Sie zeigen Nahaufnahmen von jungen Frauen, wie immer von Sherman selbst dargestellt. Meist liegen sie auf dem Rücken, so angeschnitten, dass sie regelrecht in den Bildrand gepresst werden und sich dem Betrachter unterwerfen. Sie wirken angsterfüllt, melancholisch oder sehnsüchtig – was eine Debatte lostritt über die passive Opferrolle von Frauen und den dominanten männlichen Blick, was der feministischen Kunstkritik von damals natürlich gar nicht passt. Doch genau damit hat Sherman gerechnet. „Ich wollte definitiv mit diesen Bildern provozieren. Ich wollte, dass sich männliche Betrachter angesichts der Verletzlichkeit unwohl fühlen – so wie man seine Tochter in einem verletzlichen Zustand sieht.“

 

Es sind solche Lesarten, die Shermans Werk immer wieder anecken lassen, so wie es bald auch mit den Modestrecken geschieht. Überhaupt, Mode: Für Sherman ist die weibliche Maskerade ein stetiger Inspirationsquell, um die alltägliche Sucht nach Attraktivität und Rollenspiel zu enthüllen und der Omnipräsenz von Fashion, von der Werbetafel bis zum Internet, sowie der damit verbundenen Konstruktion von Weiblichkeit auf den Grund zu gehen. Als Shermans erste Modestrecke diese absurden Figuren hervorbringt und klar ist, dass sie diesen Look ins Extrem treiben wird – hin zum Hässlichen, Grotesken und Ekligen – ist das nicht nur ein Statement gegen die Modeindustrie und deren perfiden Einfluss auf Models, Käuferinnen und Frauen generell, sondern auch gegen eine Kunstwelt, in der sich ihr Werk längst bestens verkauft. Und so fängt Sherman an, aus ihren Bildern herauszutreten und mit Prothesen und Puppen Szenen zu bauen, die sich aus zerstückelten, nackten und monströsen Wesen, Fleischbrocken und Erbrochenem zusammensetzen. Wer würde das schon kaufen? fragt sie und wird eines Besseren belehrt. Denn es sind genau diese abjekten Arbeiten, die letztlich den Kern ihres Werks enthüllen. Sie fungieren als Sinnbilder einer selbstzerstörerischen, zum Scheitern verurteilten Konsumgesellschaft, die auf Außenwirkung setzt, während es hinter der Fassade bröckelt und fault.

 

Es dauert nicht lange, dass Sherman die Versuche alter reicher Damen persifliert (die dem Typus ihrer Sammlerinnen entsprechen, und natürlich wird Sherman selbst auch nicht jünger), gegen die Zeit anzuarbeiten. Und seit einigen Jahren sind es die perversen Posen der Influencerinnen, für die sich Sherman auf das Terrain der Schönheits-OPs und digitaler Manipulation begibt. Doch wen auch immer sie aufs Korn nimmt: Am Ende sind es ihre Horrorbilder, die den Unterton für eine Kunst bilden, die die Lügen, die Maskeraden und die Verführungskraft der alles verschlingenden Massenmedien zum Thema macht – und dies symbolisch auf den Menschen überträgt.

 

Dass Sherman weiterhin Modestrecken inszeniert – für Harper’s Bazaar, Pop und Vogue Paris, mit Dior, Galliano, Prada, Dolce & Gabbana, Rai Kabakuwo, Vivian Westwood, Chanel und Stella McCartney – dass sie dabei die Atmosphäre der Modewelt durch den Kakao zieht, nur um dann wieder Mode als Befreiungsschlag zu zelebrieren, ist nur konsequent. Cindy Shermans Maskenball ist immer auch ein Totentanz. Sie lockt uns auf die dunkle Seite und hält uns den Spiegel vor: Alter und Verfall, denen wir bei allen Rollenspielen nicht entkommen können. Genauso wenig wie unserem wahren Ich – das Sherman selbst bisher erfolgreich vor allen verborgen hat.