Auf der dunklen Seite der Psyche: Louise Bourgeois in der Galleria Borghese
/ Welt am Sonntag

Es gibt Ausstellungen, in denen Kunst ihr Potential so sehr entfaltet, dass einem ganz schwummerig wird – bei denen Werke miteinander und mit Räumen auf eine Weise in Dialog treten, die alle Sinne zum Vibrieren bringen. „Louise Bourgeois: Unconscious Memories“ in der Galleria Borghese in Rom ist so eine Ausstellung. Und das ist kaum verwunderlich. Denn wo könnten die berührenden, unheimlichen und psychologisch aufgeladenen Skulpturen dieser Pionierin der Gegenwartskunst besser stehen, schweben und liegen als in einem der schönsten Museen der Welt, wo sie zwischen Berninis Apoll und Daphne, Caravaggios Krankem Bacchus und unzähligen anderen, Wände und Räume bespielenden Meisterwerken in ein barockes Gesamtkunstwerk eingebettet sind? Es ist das Jahr der Louise Bourgeois in Italien: Ihre Werke sind neben Rom auch in Florenz im Museo Novecento sowie in Neapel im Studio Tresorio zu sehen. Doch kein Ort ist magischer als die Galleria Borghese, die das Werk dieser Ausnahmekünstlerin auf eine völlig neue Weise zelebriert.

 

Bourgeois, geboren 1911 in Paris und gestorben 2010 in ihrer Wahlheimat New York, zeigte als erste, wie das eigene Erleben und Erinnern plastische Form werden kann. Sie ging von ihrer Kindheit aus, verarbeitete die komplizierten und doch liebevollen Beziehungen zu ihren Eltern und später ihre eigene Mutterrolle in surreal aufgeladenen, semi-figürlichen Skulpturen aus Marmor, Bronze und Stoff und in auf Häusliches anspielenden Rauminstallationen aus Käfigen, die man als Sinnbilder für Geborgenheit oder Gefangenschaft lesen kann. Die Metamorphose, die innere Entwicklung und die sich äußerlich wandelnde Form, im Werden oder Verfall begriffen, ist Bourgois‘ Lebensthema – so wie Ovids Metamorphosen sich wie eine Lebensader durch die Werke in des Museums ziehen: Ohne die zweitausendjährigen mythologischen Verse, in denen Götter zu Menschen, Tieren und Pflanzen werden, wäre Kunst, und besonders die des Barock, wohl kaum so dramatisch und unterhaltsam, psychologisch vielschichtig und visuell stimulierend geworden.

 

Kuratiert von der jungen Kunsthistorikerin Cloé Perrone und initiiert von der Easton Foundation, die Bourgeois‘ Nachlass betreut, sind in der Galleria Borghese zwanzig Skulpturen zu sehen, die sich durch fast jeden Raum vom Entrée bis in den Garten ziehen, an dessen Ende eine von Bourgeois‘ berühmten, großen Spinnen aus Bronze wacht – eine Allegorie der Mutter als Beschützerin, die jeden Moment zur Bedrohung werden kann. Es ist eine Würdigung der der besonderen Art: An einem Ort, an dem Gegenwartskunst zwangsläufig zu kurz kommt, findet nicht nur Bourgeois‘ erste Einzelausstellung in Rom statt, sondern die erste Schau einer zeitgenössischen Künstlerin überhaupt – einer, deren Werk den größten Altmeistern in nichts nachsteht.

 

1967 reiste Bourgeois erstmals in die ewige Stadt und verliebte sich schlagartig in die Galleria Borghese, wo man damals noch ungestört von Touristen in eine verzauberte Fantasiewelt eintauchen konnte. Ursprünglich als Sommersitz inmitten eines gigantischen Parks mit Blick über die Dächer Roms geplant, geht die Kunstsammlung in der Villa auf Kardinal Scipione Borghese zurück: Neffe und Sekretär von Papst Paul V, an dessen Seite er die Familienkasse aufstockte und mit dem Geld herausragende Kunst kaufte, vor allem von Bernini und Caravaggio, von denen kein anderes Museum mehr Werke besitzt.

 

In Bourgois‘ Ausstellung liegt ein besonderes Augenmerk auf Werken, bei denen die Künstlerin mit Carrara-Marmor arbeitete, für die sie immer wieder nach Rom zurückkam. Im Raum von Berninis weltberühmter Skulpturengruppe Aeneas, Anchisis und Ascanius – eine Szene aus der Aeneis, in der der Held seine Familie aus dem brennenden Troja rettet – ist ein schimmernder, rosafarbener, beinahe transluzenter Marmorblock vor einer reich ornamentierten Tür platziert. Von beiden Seiten ragen aus dem Stein zwei sorgfältig gearbeitete Arme und Hände heraus, die einander zärtlich halten. Auf einem Unterarm sitzt ein kleines Haus: Nähe, Liebe, das Haus als Symbol der Zugehörigkeit könnten Gold und Marmor beinahe verblassen lassen, wäre die Villa selbst nicht der perfekte Ort, um bei sich selbst anzukommen.

 

Bourgeois, deren Eltern eine Restaurationswerkstatt für historische Teppiche betrieben, besaß profunde Kenntnisse der Kunstgeschichte, was sie mit ihrem Mann verband, dem Kunsthistoriker Robert Goldwater, mit dem sie 1938 nach New York zog. Der Akt der Reparatur, oder vielmehr: das Vernähen von Stoffen sollte ein wichtiges Merkmal von ihrem Oeuvre werden, in das sie ihre Beschäftigung mit Psychoanalyse und mit der aufkommenden Emanzipation einwob. Tatsächlich sind es ihre Stoffskulpturen, die noch aus der Werkstatt der Eltern stammen, die in der gesamten Schau hervorstechen: mumienartige Köpfe aus kunstvoll bestickten, oft zusammengeflickten Teppichteilen sind wie blind starrende Wesen in der Sala degli Imperatori aufgestellt, inmitten repräsentativer Marmorbüsten und Berninis berühmter, vor Dynamik beinahe berstender Skulptur Raub der Proserpina. Bourgeois‘ Köpfe bilden dagegen Innenbilder, Metaphern für die verletzte Seele, die neben den idealisierten Abbildern großer Männer gespenstisch und kraftvoll erscheinen – und auch Berninis Skulptur der miteinander ringenden Körper samt Cerberus, dem dreiköpfigen Höllenhund, wird plötzlich aus dem Totenreich beäugt. Nur eine einzige Skulptur von Bourgeois reicht aus, um auch die Sala Ercole zu verwandeln: In dem grün leuchtenden Herkulessaal mit Correggios Danae betrachten sich zwei weiß eingehüllte Köpfe auf einem Tisch in einem Käfig: Bourgeois spielt auf die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen an, auf die Psychodynamiken, die sich, unabhängig von der Umgebung, im Innern entfalten und doch intensiv in den Raum ausstrahlen.

 

Die größte und düsterste Installation – ein weiterer von Bourgeois Käfigen, die sie Cages nannte – füllt einen ganzen Saal im Obergeschoss: Passage Dangereux besteht aus alten Holzmöbeln, vor allem aus kleinen Stühlen, aber auch aus metallischen Bettgestellen, einer Puppe und Glaskugeln, die eine Art Geisterbahn der Kindheitserinnerungen bilden. Auf einem Drahtbett stecken vier grob nachgebildete Füße in Eisenstangen, die in einen Metallkasten münden – zwei strecken die Zehen nach unten, zwei nach oben: Ein in aller Härte und doch beinahe kindlich nachempfundener Geschlechtsakt, ähnlich brutal wie all die barocken Darstellungen, auf denen Frauen entführt, betatscht und vergewaltigt werden, auch wenn die Verbrechen dort in strahlende Kompositionen von Lust und Sinnlichkeit verwandelt werden.

 

Bourgois‘ Stärke war es, Begierden und Beklemmungen in seltsame, nicht definierbare Objekte zu verwandeln, die vom Körper handeln und ihn doch nicht visuell ausformulieren – und gerade dadurch für Unruhe und Erstaunen sorgen. So auch im einstigen Vogelhaus der Galleria Borghese: Drei handliche schwarze Bronzen schweben in dem Gartengebäude, dessen Fresko exotische Vögel vor blauem Himmel zeigt. Die Bronzen wirken dagegen wie eine Mischung aus Penis, Vulva und Vampir: intersexuelle Organe, zauberhaft und verstörend zugleich. Sie verweisen auf Bourgois‘ Faszination für Schwebezustände, auf Transformation und Metamorphose – auf das stetige Potential des Menschen, sich zu verwandeln und auf seine Eigenschaft, immer im Fluss und niemals festgelegt zu sein. Datiert auf 1968, zählen diese Arbeiten zu den progressivsten Zeugnissen der zeitgenössischen Kunst überhaupt, mit denen ausgerechnet das sonst im Altertum festhängende Rom eine der besten Ausstellungen des Sommers vorweisen kann.

 

Louise Bourgois‘ Mut und ihre Innovationskraft, ihr feines Gespür für die dunkle Seite der Psyche, die in ihrer Kunst zu einer beunruhigenden Schönheit wird, leuchtet in diesem Umfeld heller denn je. Ihre Skulpturen bilden einen femininen, starken Kontrast zum monumentalen Spektakel des Barockmeisters Bernini und all den anderen Werken, in denen Frauen nur selten selbst bestimmten, was mit ihnen geschah. Eine solche Ausstellung in diesem traditionellen Kontext zu zeigen, nur einen Steinwurf vom Vatikan entfernt und in einer politischen Stimmung, die den weiblichen Körper wieder zunehmend fremdbestimmen will: Damit ist es Francesca Cappelletti, der Direktorin der Galleria Borghese seit 2020, gelungen, den Selfie-süchtigen Massentourismus mit einer Gegenwartskunst zu konfrontieren, die auf die verborgene Seite des Menschseins blickt.

 

 

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